Das Weiszheithaus, ein Jahrhundertroman

 

 

the making of...

 

Das Buch ist fertig, der Schreibtisch wird aufgeräumt. Manches Hilfsmittel ist zu schade zum Wegwerfen, manches Gestrichene zu schade zum Wegwerfen.

Rechts beispielsweise die erste Ideenskizze für die Biografie des Hauses,
in der ich nach Analogien zwischen dem Altern des Hauses und dem eines Menschen suchte. Der Vergleich hinkt natürlich, denn ein Haus verfügt nicht über die Autonomie und Willensfreiheit eines Menschen, auch muss es bleiben wo es hingebaut wurde, aber je weiter ich beim Schreiben vorankam und je älter das Haus wurde, desto mrkanter wurden sein Charakter und seine Indivualität.

Empathie gegenüber Dingen hat mich immer misstrauisch gemacht ("ich liebe dieses Kleid" etc.pp.) aber beim Weiszheithaus fiel es mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie Kurt Weiszheit das Haus atmen hört und Sven es heimlich küsst - vielleicht weil das Weiszheithaus ein Gehäuse für so viele Menschen-Schicksale ist.
Sein Zustand entscheidet darüber, ob die Bewohner frieren müssen und krank werden oder ob sie sich wohl fühlen und sogar, ob sie einander mögen können.
Der Bombentreffer 1944 hat einige Bewohner das Leben gekostet und das Haus einen Vorderflügel. Elise reibt sich auf, um es zu retten. Mit heimlichen Sabotageakten versucht Komalla, das Haus von der drängenden Sanierungsliste auf die geduldige Abrissliste zu befördern.
Und es ist das gelebte Leben - Glück wie Leid - das die Wände selbst dann noch warm wirken lässt, wenn alle Bewohner wegen der Sanierung ausgezogen sind.  

 

 

 

 

Ausgeschnittenes

 

  1  

Die psychosomatischen Leiden des ZK-Funktionärs Herbert Nachtigall bieten reichlich Stoff für sadistische Exkurse. Vielleicht sogar zuviel...
Die folgende Streichung stand ursprünglich vor "Oh Gott! er hat sich im Traum lustig gemacht!" auf S. 540:
 
 

In der Höhle des Drachen. Dunkel. Absolute Nacht. Er lauscht, hört schweren Atem, spürt Hitze, das Vieh stinkt. Hoppla. Sein Speer klirrt gegen Stein oder sinds der Echse erzne Schuppen? Ruhige Atemzüge. Wenn er nur was sehen könnte. Da. Ein roter Punkt, das Ziel? Er bewegt sich in Richtung des Lichts, setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, nur nicht aufwecken das Vieh, nur nicht auf den Schwanz treten. Bewegt sich das rote Glühen? Es blinkt. Schwarze Schlangenpupille, plötzlich trifft ihn Gluthauch und Licht. Seine Haare, Augenbrauen, Wimpern kräuseln sich vor Hitze. Mit einem Wusch entzündet sich sein weißer Umhang, die Lederbänder schmoren, der Harnisch klirrt zu Boden, seine Heldenhaut wirft Blasen.“

 
  2  

Der Abschnitt über Archive sollte eigentlich Kurt Weiszheits Aufarbeitungs-Verdrossenheit Mitte der 90iger Jahre verdeutlichen, fiel dann aber seiner Trunksucht zum Opfer...  passte also irgendwie nicht mehr zu seiner verschwommenen Sicht auf die Dinge.
 
 


Archive wachsen. Wenn der Staat wächst, wachsen sie exponentiell mit. Ein Staatsdiener muss Rechenschaft über sein Tun ablegen, berichten und aufschreiben, Formulare ausfüllen und Aktenvermerk anlegen. Er verewigt sozusagen seine sterbliche Erscheinungsform. Nur so kann der Dienst aufrechterhalten werden, sollte einem einzelnen Diener einmal etwas zustoßen. Der Staat ist ewig. Weil die Lebensspanne des Staatsdieners nicht exponentiell wächst, muss ein immer größerer Teil der Dienstzeit aufgewendet werden, um Akten zu lesen und zu schreiben, bis zu dem Gipfelpunkt, an dem die gesamte Tätigkeit aller Staatsdiener nur noch darin besteht, Akten zu wälzen, und gleichzeitig Mangel an Arbeitskraft eklatant sich bemerkbar macht.

Der Staat besteht weiter und er sieht sehr beschäftigt aus, aber er interagiert nicht mehr mit der Wirklichkeit. Außerdem führt das Wachstum papierner Archive zu überbordendem Platzbedarf und langen Wegen. Das Ministerium für Staatssicherheit beispielsweise soll bei seinem Exitus über 12km laufende Akten verfügt haben, was gleichbedeutend ist mit „keine Akten“, denn da findet man nichts wieder.

Sind die Archive voll, kommt die Revolution. Alles Suchen nach anderen Ursachen ist Unfug. Wichtigste Aufgabe einer Revolution ist die Leerung und Entwertung von Archiven durch Brandschatzung.

Da nun aber die Deutschen praktische Anarchie verabscheuen und ihre Revolutionen lieber im Kopf vollziehen, respektive Archivgut lediglich für nichtig erklären, ohne es physisch aus der Welt zu schaffen, verstopft selbiges die Regale und Köpfe, führt zu endlosen Aufarbeitungen der Geschichte, Legendenbildungen und Bedeutungskonkurrenzen, im schlimmsten Fall zu Verwirrung, Feindseligkeit und Kriegserklärungen, worauf die Brand- und Sprengbomben der Angegriffenen den Archivdschungel roden und einen Neubeginn ermöglichen...  

 

 

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